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#1

St. Christophen auf Kühnelts Spuren

in Exkursionsberichte 28.08.2012 22:48
von Thomas Z-K • 738 Beiträge

Der bekannte Biologe und Entomofaunist (und vieles mehr) Wilhelm Kühnelt hatte in den 1950er Jahren einen besonderen Forschungsschwerpunkt im Raum St. Christophen im westlichen Wienerwald bei Neulengbach. In seiner Sammlung - die von Bieringer & Rotter, aber auch von Kurt Harz und der ZOODAT in Linz ausgewertet wurde und damit in unsere Heuschreckenkartierung einfließen konnte - finden sich viele spannende Funde, darunter eine ganze Reihe wärmeliebender Arten, die im westlichen Wienerwald heute fast oder ganz verschwunden sind. Unter den 23 Arten, die er aus dieser Umgebung sammelte, sind vor allem Stenobothrus nigromaculatus, Calliptamus italicus und Omocestus haemorrhoidalis schon seit Jahrzehnten nicht mehr im westlichen Wienerwald gefunden worden. Auch sonst gibt es viele Arten, die wir bisher nicht bestätigen konnten - vielleicht ist wem im Ostösterreichatlas schon aufgefallen, dass aus der ecke lauter "nur vor 1961"-Funde verzeichnet sind.
Ich wollte mir das schon länger mal ansehen, ob es wirklich so bergab gegangen ist mit den anspruchsvollen Arten, oder ob es einfach das fehlen guter aktueller Nachsuchen. Heute Nachmittag waren die Umstände endlich passend, das Wetter optimal. Ich ging von der Westbahn bei Maria Anzbach auf den Kohlreitberg und von dort die südexponierten Wiesen westwärts Richtung St. Christophen, wo ich bei Hocheichberg Kühnelts "Bergwiese" vermute, wo all die wärmeliebenden Arten rund um Stenobothrus nigromaculatus zu finden waren. 15 Kühneltsche Arten waren seit 1960 nicht mehr gefunden worden, 20 weitere Arten waren der bekannte Bestand seit 1990 (12 davon kannte Kühnelt noch nicht).
Der Aufstieg führte durch die klassischen "fetten Magerwiesen" des Wienerwaldes, kurz nach dem zweiten Schnitt und recht artenarm aber landschaftlich reizvoll:

Bis über den Kohlreitberg waren 15 Arten zu finden, darunter auch Gomphocerippus rufus, seit 1951 "fehlend" aber eigentlich recht häufig.
Auch auf den Südhängen blieb es ziemlich eintönig trotz einzelner magerer Stellen - aber auf solchen Stellen zwei Bestätigungen - Phaneroptera falcata und ein zu erwartender Neuzugang - Euchorthippus declivus:

Und auf diesem winzigen Niedermoorrelikt die seit Kühnelt nicht mehr kartierte Conocephalus fuscus:

Man ahnt an solchen intensivierten Grünländern, dass sich da einiges getan haben muss.
Am Hocheichberg ging es dann sehr rasch mit einer Reihe thermophiler Arten - obwohl hier gerade die schönsten mageren Oberhangbereiche aufgeforstet und verbracht sind - Wiederfunde von Metrioptera bicolor und Oedipoda caerulescens und neu Chorthippus mollis und Mantis!

Der Westteil von Hocheichberg schaut aber noch wirklich gut aus - leider war es schon zu spät für guten Gesang und für den nigromaculatus wohl auch jahreszeitlich nicht mehr optimal - da besteht dringender Nachsuchbedarf, hier sind einige gute Arten noch zu erwarten:

Zurück in der Abenddämmerung durch Haag und Neulengbach gab es ein abendliches Konzert mit einigen Neuankömmlingen, die zu Kühnelts Zeiten noch unbekannt waren - Phaneroptera nana, Acheta domestica und Oecanthus pellucens.
Insgesamt doch erstaunliche 28 Arten, davon fünf seit 1960 nicht mehr gefunden (also übersehen), aber auch sechs bisher unbekannte, die - mit Ausnahme von Tetrix undulata auf einem Waldweg - alle wohl erst in den letzten zehn Jahren eingewandert sind.
Fazit - Kühnelts thermophile Lebensräume sind stark geschrumpft aber noch teilweise vorhanden, der Artenschwund nicht so wild wie ursprünglich befürchtet. Und nächstes Jahr findet sich vielleicht noch der nigromaculatus!
Grüße
Thomas

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#2

RE: St. Christophen auf Kühnelts Spuren

in Exkursionsberichte 29.08.2012 19:49
von Günther • 2.336 Beiträge

Lieber Thomas!

Das ist ein äußerst spannender Beitrag, der mich wiedermal zur Verwunderung bringt, dass gerade solche wiennahen Gegenden aktuell dennoch recht schlecht untersucht sind..
Und mich freut es am meisten, dass Du wiedermal Zeit und Muse für so eine Fact-finding-Exkursion hattest!
Auf den Spuren der großen alten Orthopterologen wie Kühnelt, Redtenbacher, Nadig, Ebner, Ramme, Werner, Kaltenbach und wie sie alle heißen, zu wandeln, ist eines der aufregendesten und spannendsten Dinge überhaupt!
Wie man ja zB an Wolfgangs stigmaticus-Untersuchungen sieht, sind ja oft schon innerhalb von nicht mal 10 Jahren ehemals gut besiedelte Habitate zerstört. Aber (auch, wenn es nicht mehr dasselbe ist wie damals), gibt es dennoch Gebiete, in denen auch vor langer Zeit dort entdeckte Arten überdauert haben und sogar neue dazugekommen sind! Es ist zwar vieles schlecht, aber augenscheinlich gibt es auch Lichtblicke - vielleicht schaffen wir's ja nächstes Jahr, den nigro dort tatsächlich wiederzufinden!?
Mir gefällt das! :-)

Viele Grüße,
Günther


zuletzt bearbeitet 29.08.2012 19:58 | nach oben springen

#3

RE: St. Christophen auf Kühnelts Spuren

in Exkursionsberichte 13.07.2013 23:04
von Günther • 2.336 Beiträge

Auf den Spuren W. Kühnelts und T. Zuna-Kratkys wandelte ich heute Nachmittag genau im von Thomas beschriebenen Gebiet, um dem Hinweis

Zitat von Thomas Z-K im Beitrag #1
Und nächstes Jahr findet sich vielleicht noch der nigromaculatus!

nachzugehen. Allerdings war ich wegen Zeitmangels nur auf den Wiesen bei Hocheichberg, und hier auch nur im Westteil. Der Ostteil wird derzeit von Rindern beweidet, schaut aber dennoch nicht schlecht aus!

Schon beim Aufstieg aus Westen kam ich an dieser schönen Schlagfläche vorbei:



Wie es sich für einen solchen Standort in dieser Gegend gehört, wurde er dominiert von Pholidoptera griseoaptera, Chorthippus brunneus, Gomphocerippus rufus und Tetrix undulata, letztere sehr individuenstark auch mit vielen Larven und alle adulten kurzdornig.





Und wie es sich ebenfalls für einen solchen Standort gehört, flogen hier bis zu 5 Cicindela silvicolas umher, dieser hier mit einem von Wolfgangs neuen Lieblingsobjekten zwischen den kräftigen Oberkiefern:



Im Westteil befinden sich einige terrassenartige Wiesenflächen, die ich als magere Fettwiesen oder fette Magerwiesen bezeichnen würde. Also eigentlich als Halbfett-Wiesen;-) Innerhalb einer Terrasse änderte sich der Nährstoffreichtum teils deutlich, die Oberhänge und waldnahen Flächen waren wie so oft um einiges magerer als der Rest.



Es war hier alles voll mit Warzenbeißern in den verschiedensten Farbvarianten, den beiden Goldschrecken und vielem anderen. Für Stenobothrus lineatus waren die nährstoffärmeren Bereiche gerade mager genug, S. nigromaculatus braucht es glaub ich doch noch etwas extremer. Gerade als ich das dachte, hörte ich auf einer der unteren Terrassen ein entferntes, verdächtiges Schnurren! Nach einiger Suche war der "Übeltäter" dann gestellt und Thomas hatte mit seinem Spürsinn nach "guten Arten" wie so oft recht!



Aber kein S. nigromaculatus, sondern die Große Höckerschrecke Arcyptera fusca schnarrte und zischte hier vor sich hin, zunächst nur mit einem einzelnen Männchen auf der unteren Terrassse, auf denen darüber dann immer häufiger. Mindestens 15 singende Männchen konnte ich zählen, dazu etwa 3 Weibchen.



Es war ein Wiederfund nach Kühnelt 1948! Schön zu wissen, dass sie es bis heute dort durchgehalten haben - hoffen wir, dass sie es auch noch die nächsten 65 Jahre machen... Wäre interessant, wie es damit im Ostteil der großen Wiesenfläche weitergeht, ich werde morgen wieder hinschauen und zumindest vom Weidezaun aus lauschen.

Inklusive der von Thomas gefunden Arten sind es nun am Hocheichberg schon mind. 24 an der Zahl, und es kommen sicher noch einige hinzu.

Hier noch die Artenliste von dort (in der Reihenfolge der Entdeckung):

Tettigonia viridissima - mäßig häufig
Tettigonia cantans - häufig
Tetrix undulata - ad und l häufig am Kahlschlag
Gomphocerippus rufus - mäßig häufig am Kahlschlag und an Waldrändern
Pholidoptera griseoaptera - häufig am Kahlschlag und an Waldrändern
Pholidoptera aptera - mäßig häufig in den Strauchreihen
Chorthippus brunneus - einige am Kahlschlag
Nemobius sylvestris - wenige singend
Metrioptera roeselii - häufig
Gryllus campestris 1 ad singend, 2 Larven
Tetrix tenuicornis - 1 ad in lückiger Wiese
Chorthippus parallelus - häufig
Decticus verrucivorus - häufig
Stenobothrus lineatus - 5 w, mind. 3 m, 1 l
Euthystira brachyptera - häufig
Phaneroptera sp. (vermutlich falcata) - 1 Larve
Chrysochraon dispar - häufig in längergrasigen Bereichen
Chorthippus biguttulus - selten singend
Chorthippus apricarius - 1 m, 1 w
Arcyptera fusca - gezählt 18 Männchen, 3 Weibchen
Oedipoda caerulescens - 1 Larve auf vegetationsloser Fläche in Wiese
Metrioptera bicolor (Thomas)
Chorthippus mollis (Thomas)
Mantis religiosa (Thomas)


LG,
Günther


zuletzt bearbeitet 14.07.2013 16:58 | nach oben springen

#4

RE: St. Christophen auf Kühnelts Spuren

in Exkursionsberichte 14.07.2013 21:41
von Günther • 2.336 Beiträge

So, hier nun der heutige Bericht vom Ostteil des Hocheichberges.

Von Osten kommend, stieß ich nach kurzem Wegmarsch durch den Wald auf ein winziges (Halb-)Trockenrasenrelikt, daran anschließend eine kleine Ziegenweide. Auf diesen paar Quadratmetern fanden sich gleich wieder ein paar thermophile Arten wie S. lineatus, D. verrucivorus, Oe. caerulescens, eine Mantis-Larve und P. grisea sowie ein einzelner Arcyptera-Schnurrer.
Anschließend kam ich auf die schönste Fläche, die mir bisher bei der Wienerwald-Kartierung unterkam! Ein magerer Oberhang einer großen abschüssigen Wiese, von dem man einige Bereiche eigentlich schon fast als klassischen Trockenrasen bezeichnen könnte (auch wenn es am Bild nicht so gut rüberkommt). Kurzrasige Stellen waren ebenso vorhanden wie vegetationsfreie sandige Standorte, an denen teils zahlreich Ödlandschrecken-Larven umherhüpften. Es roch hier ganz verdächtig nach S. nigromaculatus und O. haemorrhoidalis!



Die Fläche war etwa 150 m lang und ich hielt mich dort mindestens 90 Minuten lang intensivst suchend auf, weswegen ich vorsichtig zu behaupten wage, fast nichts übersehen zu haben. Es tauchten hier viele Eu. declivus auf, ebenso mehrere Mantis-Larven (teils im letzten Larvalstadium), Oe. caerulescens, S. lineatus, P. grisea, M. bicolor, einige Leptophyes albovittata-Männchen, massenhaft Warzenbeißer sowie dermaßen viele Große Höckerschrecken, dass ich schon nach kurzer Zeit aufhörte zu zählen. Es war herrlich, von diesen pompösen Gesängen umringt zu sein, und es gab sogar auch einige direkte Anflüge;-)

Von Stenobothrus nigromaculatus oder Omocestus haemorrhoidalis aber keine Spur, und das liegt gewiss nicht am gegenwärtigen Zustand des Lebensraumes, denn der wäre ideal gewesen! Die einzige Erklärung, die mir hierfür einfällt, ist eine zweimal geänderte Bewirtschaftungsweise seit Kühnelts Zeit. Vielleicht wurde die Wiese in den 1960er oder -70er Jahren einer kräftigen Nährstoffspritze unterzogen, die die Artenzahl gegen Null trieb. Irgendwann danach hat man wieder auf die "ursprüngliche" Bewirtschaftung umgestellt, was den heutigen Zustand zur Folge hatte. Aufgrund des Fehlens der beiden Zielarten in den umliegenden Gebieten konnten diese aber nicht mehr einwandern. Eine andere Möglichkeit bleibt mir verborgen - zumal es sowohl den nigro als auch den haemo anscheinend früher hier gab!

Incl. den von Thomas dort letztes Jahr festgestellten Ch. mollis ergibt das am Hocheichberg gegenwärtig mind. 27 Arten, alleine auf dem zweiten Standort heute konnte ich 22 feststellen. Sicher ist, dass es solche Sonderstandorte im zentral-westlichen Wienerwald bestimmt mehrere gibt, die man aber nur durch längere Wanderungen zu Fuß oder durch solche exzellenten Vorarbeiten wie die von Thomas findet. Und irgendwo wird der nigro schon noch sitzen - nur entdecken muss man ihn halt erst...

Danach gab´s noch Chorthippus montanus in einer Fettwiese - auch ein schöner Anblick an einer Stelle, wo man ihn gar nicht vermuten würde...

LG,
Günther

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#5

RE: St. Christophen auf Kühnelts Spuren

in Exkursionsberichte 14.07.2013 22:00
von hospiton • 2.720 Beiträge

Abend allseits!

Zitat von Günther im Beitrag #4
...Sicher ist, dass es solche Sonderstandorte im zentral-westlichen Wienerwald bestimmt mehrere gibt, die man aber nur durch längere Wanderungen zu Fuß oder durch solche exzellenten Vorarbeiten wie die von Thomas findet. Und irgendwo wird der nigro schon noch sitzen - nur entdecken muss man ihn halt erst...
Nicht nur im zentral-westlichen, ich glaube dass es überall so Stellen gibt! Und das Schöne aber auch frustrierende bei solchen gezielten Kartierungen ist, dass man erstmal grob vorsortiert (via Google-Earth oder alten Literaturangaben), dort dann m.o.w. erfolgreich/-los sucht und dann, wieder via Luftbildaufnahmen sieht, dass gleich um die "Ecke" noch so ein kleiner Hotspot liegt - also wieder hin und - Bingo! Oder man ist auf der Suche nach Art A, die es dort einmal gegeben haben soll, und man findet Art B, wie es mir in den letzten Tagen öfter erging. Und man bekommt dabei noch nebenbei einen wunderbaren Blick für Habitate, die dies oder das beherbergen könnten. Das Hauptproblem dabei wird dann eher sein, wie man diese Plätze dann noch so erhalten kann für die Nachwelt!

LG

Werner


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#6

RE: St. Christophen auf Kühnelts Spuren

in Exkursionsberichte 15.07.2013 09:12
von Thomas Z-K • 738 Beiträge

Lieber Günther!

Perfekt - Du hast genau die Wiesen zu optimalen Bedingungen gesichtet, die ich mir damals in der Abenddämmerung mit den schönsten Arten vorgestellt habe, wos aber einfach schon zu spät war. Die Spitzenwiese am Oberhang ist wirklich eine ganz tolle Fläche, dort muss der Schwarzfleckige gewesen sein. Aber Artenreichtum und die Höckerschrecken zeigen immer noch, wie gut erhalten das Gebiet ist.
Danke & Grüße
Thomas

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